"Also hier
würd ich nicht wohnen wollen", sagte die grimmige alte Frau, die mir
entgegen kam, als ich nach meiner Besorgungstour aus der Innenstadt in das
Wohnviertel, in dem ich aufgewachsen bin, heimkehrte. Mittlerweile lebe ich in
einer größeren Stadt von etwa einer halben Million Einwohner, die circa 100km
von meiner Geburtsstadt entfernt liegt. Aber ich besuche meine Eltern
regelmäßig und jetzt zur Weihnachtszeit länger als ein obligatorisches
Wochenende pro zwei Monate. Ich habe gern hier gelebt. Die kleine Stadt,
reichlich vierzigtausend Seelen zählt sie, liegt ruhig und
unbehelligt-provinziell am Fuße eines Mittelgebirges, ist für dies und jenes
über die Grenzen des Landes hinaus bekannt und für ostdeutsche Verhältnisse
haben hier viele Menschen Arbeit; die Firmen ziehen sogar mehr zu als ab. Zum
Aufwachsen empfand ich es hier als Ideal. Es gibt ein großes Kino, ein
Erlebnisbad, einen großen Park, ein paar künstliche Seen im Umland, ein
Gewerbegebiet mit vielen Läden, die jungen Menschen wichtig sind und ein
Gymnasium von gutem Ruf. Der Ort ist groß genug, um sich nicht gänzlich zu
langweilen, aber ausreichend klein, um die nächtliche Sicherheit auf den
Straßen zu gewährleisten.
Ende der 1980er
Jahre entstand im Westen der Stadt auf einer bis dahin noch unbebauten Fläche
ein großes Neubaugebiet, voller sechsgeschossiger Plattenbauten. Ich ging
geradeso in den Kindergarten, als wir in einen dieser Blöcke zogen, einfach
weil es preiswerte, geräumige (meine Mutter war gerade mit meiner Schwester
schwanger) Wohnungen waren und man auch irgendwie als hip galt, wenn man einen
der Betonklötze bezog. Und so wimmelte es in den Neunziger Jahren vor jungen
Familien mit ein bis drei Kindern in den Neubauten, die Wiesen des erstaunlich
grünen Plattenbaugebietes waren im Sommer voller spielender Kinder und im
Winter der Schauplatz vieler Schneeballschlachten und schneearchitektonischer
Meisterleistungen. Doch die Hipness war schnell dahin. Heute leben hier vor
allem alte Menschen, schlecht integrierte Osteuropäer, Studenten - die Schnitte
der Wohnungen eignen sich in der Tat prima für Wohngemeinschaften-, und eben
jene Ehepaare, die vor 20 Jahren mit ihrer kleinen Familie hier her gezogen
sind. Die Grünflächen sind leer und die Sommernachmittage leise geworden.
Sobald meine Schwester mit der Schule fertig ist und wegzieht oder irgendwie
eigenes Geld verdient, werden sich wohl auch unsere Eltern eine Bleibe suchen,
die ihrem nicht niedrigen Lebensstandard angemessener scheint. Ich habe für die beiden immer
von einer verwinkelten, fensterreichen Altstadteigentumswohnung geträumt.
Trotz all dem bin
ich der Frau, die mir auf dem Heimweg entgegen kam, böse. Ich hatte hier eine
Kindheit, die schöner und erfüllter nicht hätte sein können, inmitten vieler
gleichaltriger Kinder, die gern mit ihren Eltern auf dem Balkon, auf dem
Grillen verboten ist, gesessen haben. Zugegeben, diese Weihnachtswoche bei
meiner Familie gehört zum anstrengendsten, was ich im Laufe dieses Jahres
gemacht habe - die Wände haben hier Ohren, jeder Tropfen, der im Badezimmer die
Keramik trifft, wird im Nebenraum vernommen und das Prinzip der Privatsphäre
war und ist meinen Eltern von jeher fremd. Drei bis vier Mahlzeiten am Tag, zu
recht festgelegten Uhrzeiten, überstrapazieren meinen Appetit und mein Bedürfnis
nach Gesundheit und einem schlanken, straffen Körper und die Anzahl der Bars
und guten Kneipen, in denen ich mich abends mit alten Freunden aus Schulzeiten
treffe, die in diesen Tagen den Weg in die alte Heimat ebenso gefunden haben
wie ich, ist grausam gering. Jetzt, da ich die Auswahl einer großen Stadt
genießen kann - die irischen Pubs, die spanischen Tapas- und Cocktailbars, die
Fußballkneipen ... - kommt sie mir sogar noch geringer vor als früher.
Doch ich lebte
gerne hier. Ich werde immer wieder gerne hierher zurück kommen, für ein paar
Tage. Und ich werde meine kleine Stadt und die Häuserblöcke, zwischen denen ich
aufgewachsen und herumgetobt bin, vor jedem verteidigen.
1 Kommentar:
Go F-Town! ;)
Ich denke da auch immer etwas wehmütig an Grundschulzeiten zurück. Von später hab ich ja nicht viel mitbekommen.
Schöner Post!
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