Seitdem ich in Lindenau wohne, erkunde ich immer mal wieder die nähere Umgebung zu Fuß oder mit dem Rad, um den Leipziger Westen im Detail kennen zu lernen. Gerade durch die industrielle Vergangenheit dieser Viertel gibt es Einiges zu entdecken - leerstehende Fabrikhallen, die alten Kanäle, nun kulturell genutze ehemalige Industrieanlagen.
Bei meiner jüngsten Entdeckungsfahrt vor drei Tagen bin ich u. a. zu einer Kirche geradelt, deren Turm ich immer nur aus der Ferne von der Karl-Heine-Straße oder der Amalienstraße aus gesehen hatte. Ich selbst bin nicht gläubig oder irgendeiner Konfession angehörig, aber für Kirchenbauten habe ich seit jeher Interesse gehabt. Ich stieß auf eine Kirche, die schon von Weitem zerfallen und überraschend ungenutzt aussah, die Fenster sind teils kaputt und notdürftig mit Pappen oder Sperrholzplatten abgedeckt, alle Türen verrammelt.
Direkt an den Kirchenbau schließt ein ebenso heruntergekommenes Wohnhaus an. Man denkt erst gar nicht, dass es bewohnt ist, doch dann entdeckt man in den Fenstern des zweiten Obergeschosses beschriftete Transparente, die für den Erhalt der Kirche und des anliegenden Hauses zu kämpfen scheinen.
Der Zustand von Haus und Kirche hat mich verwundert - handelt es sich doch um einen der besten Standorte in der Stadt! Im Westen schließt direkt der Karl-Heine-Kanal und eine Menge Grün an, die Kreuzung Amalienstraße/Helmholtzstraße ist ruhig und kleinstädtisch und trotzdem nur ein paar Sekunden von der Karl-Heine-Straße entfernt. Alle umliegenden Häuser sind neu saniert, haben riesige begrünte Balkone und stuckverzierte Zimmer.
Leider war nirgends ein Schild oder eine anderweitige Information zum Kirchenbau zu entdecken, nicht mal ein Briefkasten o. ä., auf dem ich den Namen des Gotteshauses erfahren hätte. Dank Google Maps war dieses Problem rasch beseitigt: es handelt sich um die Philippuskirche, die einst das Zentrum der evangelisch-lutherischen Gemeinde Lindenau war. Die Philippusgemeinde wurde mit der Heilandsgemeinde Plagwitz zusammengelegt; seitdem finden alle Gottesdienste in der Heilandskirche, einem neogotischen Backsteinbau an der Erich-Zeigner-Allee statt. Die Philippuskirche ist nun schon seit mehreren Jahren vollkommen ungenutzt, daher rührt der zunehmende Verfall der zwischen 1907 und 1910 erbauten Kirche. Sie ist errichtet worden, weil um 1900 die Mitgliederanzahl der Gemeinde Lindenau so groß geworden war, dass die Nathanaelkirche nahe des Lindenauer Marktes für den immer weiter wachsenden Stadtteil nicht mehr ausreichte. Die Gründung der Philippusgemeinde hing also eng mit der Industrialisierung Leipzigs, von der vor allem die westlichen Viertel profitierten, zusammen. Die spätere Zusammenlegung mit der Heilandsgemeinde Plagwitz resultiert wiederum aus den zunehmend schrumpfenden Mitgliederzahlen und hat ökonomische Gründe.
In den 1990er Jahren, als der Verfall der Bausubstanz bereits fortgeschritten war, sollten die ersten Sanierungsmaßnahmen erfolgen. Die städtischen Fördermittel reichten nicht aus, sodass die Außensanierung unvollendet blieb. 2004 konnte schließlich das Dach saniert und der Gemeindesaal instand gesetzt werden; doch das Innere der Kirche ist nachwievor massiv baufällig - dabei gibt es so viel zu erhalten. Die Kirche beinhaltet viele Jugendstilelemente und eine Orgel der Dresdner Firma Jehmlich, die noch vollkommen im Orginalzustand vorhanden ist; außerdem stellt die Philippuskirche neben der Hallenser Diakoniekirche das einzige Gotteshaus in Mitteldeutschland dar, das nach dem sog. Wiesbadener Programm errichtet wurde. Dieses Dokument aus den 1890er Jahren sah vor, dass alle evangelischen Kirchenneubauten im romanischen oder gotischen Stil errichtet werden sollten. "Die Gemeinde sollte um die liturgischen Hauptstücke
Altar, Kanzel, Taufe und Orgel versammelt, der Gottesdienstraum durch
den angrenzenden Gemeinderaum erweiterungsfähig sein" (Quelle). Überblicksmäßig empfehle ich hierzu den Wikipedia-Artikel.
Graffiti an der Mauer des angrenzenden Wohnhauses (rechts) |
Die Räumlichkeiten wurden zwischenzeitlich an die anglikanische Kirche Leipzig vermietet. Im Juni 2012 hat man die Kirche samt angrenzenden Pfarrhaus als Gebäudekomplex zu einem symbolischen Preis von 1€ an das Berufsbildungswerk Leipzig (bbw) verkauft, das dort ein "diakonisch-missonarisches Projekt" (Quelle) aufbauen möchte. Der Homepage dieses Werks ist zu entnehmen, dass ein Hotel, ein Restaurant und Café mit geistig und körperlich behinderten Mitarbeitern entstehen sollen und der Kirchensaal für offene Veranstaltungen eingeplant ist.
So löblich diese Vorhaben auch sind - in dem ehemaligen Pfarrhaus leben nach wie vor Menschen. Den von ihnen angebrachten Transparenten kann man ablesen, dass sie sich wünschen, dass die Kirche wieder als solche genutzt wird und sie in ihrem Haus wohnen bleiben können. Kein Wunder, bei der Lage.
Etwa 10m von der Kirche entfernt bietet sich dieser Blick |
Es handelt sich scheinbar um einen Konflikt, bei dem alle Recht haben - wann kann man das schon mal behaupten? Nachvollziehbar ist der Wille des bbw, die vom Zerfall bedrohte Bausubstanz zu retten, den alten Mauern neuen Sinn einzuflößen. Ebenso ist es das Recht der Bewohner, in ihren Wohnungen wohnen zu dürfen und es abzulehnen, dass daraus Hotelzimmer gemacht werden, da kann das geplante Diakonieprojekt noch so ambitioniert sein.
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Zum weiteren Informieren bzw. Einsehen der von mir als Informationsquellen benutzten Internetseiten:
- Detailseite zur Philippuskirche auf der offiziellen Netzpräsens der Leipziger Kirchen
- Homepage der Gemeinde Lindenau-Plagwitz
- Projektseite des bbw
- Eintrag zur Philippuskirche auf leipzig-lexikon.de, meiner heimlichen Lieblingsseite, seitdem ich in Lindenau wohne
- Wikipedia-Eintrag zum Wiesbadener Programm