Sonntag, November 06, 2016

Zurück in die Vergangenheit oder: No Spaß without Dancing!

Gestern habe ich eine verrückte Zeitreise angestellt: Ich bin nach Leipzig gefahren und habe mich mit meiner Freundin Sandra, die ich seit Jugendtagen kenne, in einem Hostel am Lindenauer Markt eingemietet ("Blauer Stern", sehr zu empfehlen) - also mitten in meiner alten Hood. Grund des Ausfluges in die alte Heimat: Placebo, meine alte Jugendliebe, spielten in der Arena. Dort trafen wir auch noch eine weitere Freundin, mit der ich in teilweise noch weiter zurückliegenden Jugendtagen die Liebe zu Bands wie Nirvana, Linkin Park und eben Placebo teilte. Es war irgendwo zwischen magisch und merkwürdig, das alles.

Die Arena war gut gefüllt, nicht ausverkauft. Das Publikum bunt gemischt - viele Menschen jenseits der 40, immerhin war das Konzert Teil der Tour zum 20-jährigen Band-Jubiläum, aber auch einige sehr junge. Gruftis, Muttis, Studenten, alle waren da. Und eben Sandra und ich, die wir uns im Grunde sogar wegen Placebo kennen.

***

1. Opener: Ein bis dato unveröffentlichter alternativer Videoclip zum Hit "Every you, every me" aus dem Jahr 1999. Damit kriegt man das Publikum natürlich. Dem Sound und Stil der "alten" Placebo trauert heute so manch einer hinterher.



2. Pure Morning (1998): Gleich der nächste Kracher. Im Grunde könnte ich nach diesem Song schon nach Hause gehen - mehr Placebo-Lieblingsliedalarm gibt es für mich nicht.

3. Loud like Love (2013): Für einen der aktuelleren Songs ist der ganz okay, sehr poppig-schmissig. Den meisten gefällt es richtig gut, mein Tanz-Level schraubt sich etwas runter. Ich werd' mit dem letzten Studioalbum einfach nicht warm.

4. Jesus' Son (2016): Der (etwas überkritische) Rezensent des München-Konzerts am Vortag merkt in der Augsburger Allgemeinen ganz richtig an, dass dieser nigelnagelneue Song, eine Beigabe zum jüngst erschienenen Best Of-Album "A Place for us to dream", ein kleiner Stimmungsdämpfer ist. Es wurde tanzbar und mit Hits begonnen, "Jesus' Son" kennt anscheinend der Großteil des Publikums noch nicht.

5. Soulmates (2003): Als ob Brian Molko und Stefan Olsdal - Placebo ist seit Februar 2015 offiziell nur noch ein Duo - etwas gut zu machen hätten, stimmen sie dann "Soulmates" an, die etwas kantigere Version des Songs "Sleeping with Ghosts".

6. Special Needs (2003): Und es wird noch besser - mit "Special Needs" folgt eine der absoluten Perlen der Bandgeschichte. Zu dem 2003 erschienenen Song gehört übrigens auch eines der besten Musikvideos von Placebo.

7. Lazarus (2016): Siehe No. 4. Ein gänzlich neuer Song, der als solcher nicht überzeugt. Er klingt melodisch ein bisschen wie der Aufguss von "Summer's Gone" vom 1998er Album "Without you I'm nothing". Das ändert nichts daran, dass das wirklich gut gelaunte Publikum zu allem Spaß hat und tanzt. Die Band ist übrigens auch ausnehmend gut aufgelegt - bei Diva Brian nicht unbedingt selbstverständlich.

8. Too May Friends (2013): Der schlechteste, peinlichste Placebo-Song aller Zeiten. Wie schrieb Musikjournalist Sven Kabelitz auf laut.de: "Ungelenk widmen sich Placebo dem Thema Online-Kommunikation und soziale Netzwerke. Dabei klingt der mittlerweile 40-jährige Molko wie ein alter Mann, der mit gestelzten Worten und hohem Fremdschamfaktor über Dinge spricht, die er nicht mehr versteht." Aber der Refrain ist catchy, die Menge tanzt fröhlich.

9. Twenty Years (2004): Yay! Endlich hat die Band beim Tauchen wieder eine Perle entdeckt, die auch noch wie die Faust aufs Auge zum Anlass der Tour passt. Die auf den drei übergroßen und den vielen kleinen Leinwänden eingesprengten Ausschnitte aus dem künstlerisch wertvollen Musikvideo und die Live-Performance geben ein tolles, stimmiges Bild. Ich träume.

10. I know (1996): Es rockt und fetzt und melancholiert. Placebo at its best. Die Fans, die seit 1996 dabei sind oder so wie ich vor allem auf die ersten drei Studioalben der Band schwören, sind außer Rand und Band. The past will catch you up as you run faster.

11. Devil in the Detail (2009): Und gleich schicken sie einen der schwächsten Songs hinterher! Ich finde es interessant, dass die Band hinsichtlich der aktuelleren Sachen besonders an jenen Liedern live großen Spaß hat, die mir am wenigsten zusagen.

12. Space Monkey (2006): Das Album "Meds" von 2006 markiert für mich die Wende zwischen den phantastischen Placebo und den weniger phantastischen. Das liegt u.a. an diesem Song.

13. Exit Wounds (2013): Das... kenne ich gar nicht (mehr).

14. Protect me from what I want (2004): Mit diesem Song verbinde ich einen Schüleraustausch in Frankreich. Morgens im Nebel mit dem Bus von der Gastfamilie über ein paar Dörfer ins collège nach Sarreguimines. Hier sind Anne und Band wieder ganz beieinander.


15. Without you I'm Nothing (1998): Mein emotionaler Höhepunkt des Abends - jener Song, den die Band einst mit ihrem Mentor und Förderer David Bowie aufgenommen hatte. Die Band schickt liebevolle Grüße gen Himmel, auf den Leinwänden sind Bowie-Portraits und Ausschnitte gemeinsamer Auftritte zu sehen.

16. 36 Degrees (1996): Eines meiner liebsten Lieder vom Debütalbum, ich bin ganz aus dem Häuschen, als ich die ersten Akkorde erkenne. Leider wird das Lied in einer "slow version" gespielt, die dem Song etwas den Drive nimmt. Dennoch großartig, es einmal live zu hören!

17. Lady of the Flowers (1998): Eigentlich die größte Überraschung des Abends. Und spätestens hier wird deutlich, dass die Band kein klassisches Greatest Hits-Konzert spielt, sondern ihr persönliches Best Of. Diesen Song vom 1998er-Album kennen wirklich nur Leute, die sich auch abseits der Hits mit der Band befassen. Und er markiert gleichzeitig das Ende des "melancholic part" der Show, wie ein kommunikationsfreudiger Brian Molko verkündet (am Vortag in München soll die Kommunikation mit dem Publikum eher mäßig gewesen sein). Denn wie sagt er so schön (auf Deutsch): "Zu einer Geburtstagsparty gehört Spaß." Und: "No Spaß without dancing!"

18. For what it's worth (2009): Der tanzbare Spaß beginnt mit dem stärksten Song des 2009er Albums "Battle for the Sun". Und die Menge tobt.

19. Slave to the Wage und 20. Special K (2000): Wo denn Songs vom dritten Album "Black Market Music" blieben, hatte Sandra mich kurz vorher gefragt. Und hier kommen sie, die wohl grandiosesten Minuten des Abends. Mit diesem beiden Auskopplungen bringt die Band die Arena und uns zum explodieren. Es wird gehüpft, getanzt, gepogt, die eingängigen Refrains der Band entgegen geschrien. Badabdabdabdadada!

21. Song to say Goodbye (2006) und 22. The Bitter End (2003): Ein wenig unsubtil, aber eine unglaubliche Party heraufbeschwörend läuten diese beiden Songs das Finale des Abends ein. Die Stimmung bleibt entsprechend der Tanzbarkeit beider Hits auf einen enorm hohen Level.

Foto: Sandra

Zugaben:

23. Teenage Angst (1996): Auch dieser Song vom Debütalbum wird in einer "slow version" gespielt. Für mich etwas unverständlich, weil das schon ein ziemlicher Downer für die Halle ist, die die Band mit minutenlangem frenetischen Applaus zum Zugabenblock auf die Bühne gefeiert hatte und weiterhin in Tanzlaune ist.

24. Nancy Boy (1996): Aber hier geht die Party schon weiter. Die dritte Single, die die Band jemals veröffentlicht hat, hatte damals in den 90ern das Standing der Band in der LGBT-Szene zementiert. Entsprechend stolz reckt Stefan Olsdal, selbst homosexuell, seinen regenbogenfarbenen Bass in die Höhe.

25. Infra-Red (2006): Auf Platte ein okayer Song, live eine Hymne!

26. Running up that Hill (2003): Dieser Song, ein Kate Bush-Cover, markiert während der ganzen Tour das Ende von Placebo-Konzerten. Er stammt von der sensationellen CD "Covers", die einer Sonderedition des 2003er-Albums "Sleeping with Ghosts" beiliegt. Die Band zieht den Song ziemlich in die Länge und verschwindet dann sehr plötzlich, was für einen etwas merkwürdigen Abschluss des Abends sorgt.

***

Puuuh... erst mal durchatmen. Wir sind schweißgebadet und sehnen uns nach frischer Luft. Aber wir sind auch: glücklich. Weil wir um die Launenhaftigkeit und Eskapaden insbesondere des Sängers wissen und zur "früher waren sie so viel besser"-Fraktion zählen, ist der Besuch eines Placebo-Konzerts stets mit einer skeptischen Erwartungshaltung verbunden. Umso begeisterter, beseelter sind wir davon, Perlen wie "I know" oder "Without you I'm nothing" live gehört und an der "Special K"-Party teilgehabt zu haben. Die Setlist, die übrigens auf jeder Tour-Station gleich ist, ist allerdings stimmungsmäßig etwas unausgewogen, die Dramaturgie etwas unausgegoren. Das, was der Abend mir gefühlsmäßig gegeben hat, macht das aber wieder wett.

Keine Kommentare: