Montag, November 08, 2010

Wir schließen die Augen.

Ich bin ganz ruhig. Mein linker Arm ist schwer. Ganz schwer. Mein linker Arm ist schwer. Mein rechter Arm ist schwer. Mein rechter Arm ist schwer. Meine Arme sind schwer.

Lenka ist 45 und hat zwei Söhne, sieht dafür aber noch enorm jung und fit aus. Kein Wunder, denn Lenka ist Diplomsport-wissenschaftlerin. Studiert hat sie in Frankfurt am Main. Sie arbeitet im Fitnesscenter der SachsenTherme und gibt dort auch Aquafitnesskurse. Sie ist zudem eingetragene und zertifizierte Lehrerin für autogenes Training. Und deswegen sind wir heute hier.


Mein linkes Bein ist schwer. Der Oberschenkel ist schwer. Und der Unterschenkel ist schwer. Das ganze linke Bein ist schwer. Mein rechtes Bein ist schwer, ganz schwer. Das ganze Bein ist schwer. Beide Beine sind schwer.

"Wir", das sind zweimal Ines, zweimal Heike und je einmal Yvonne, Gudrun, Henrike, Gisela, Jana, Corinna und ich. Das mit dem "wir", das ist auch eine Sache, die Lenka sofort in die Hand nimmt. Und sie zieht alle Register. Stufe 1: im Kreis stehen und sich einen Ball zuwerfen, dabei den eigenen Namen sagen. Stufe 2: im Kreis stehen und sich einen Ball zuwerfen, dabei den Namen der Person sagen, der man den Ball zuwirft. Stufe 3: der berüchtigte Vertrauensbeweis - Augen zu und umkippen. In der Hoffnung, dass die Ü50-Dame hinter dir das mit dem Stützen auch hinbekommt. Das macht Gisela auch ziemlich gut. Aber nebenan bekommen Jana und Heike es nicht richtig hin; Jana traut sich nicht, sich fallen zu lassen. Jana ist deswegen ganz aufgelöst und japst nach Luft und Fassung. Sie wisse gar nicht, warum sie das nicht könne, woher diese Angst kommen könnte. Dann fängt sie an zu weinen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass in einer Gruppe, in der nur Frauen sind, früher oder später Tränen fließen. Für gewöhnlich trifft das in einem Kurs, der auf Körpergefühl abzielt, die dickste der Anwesenden. Und auch das bewahrheitet sich hier: sowohl Janas Gewicht als auch ihr Bauchumfang haben die Hundertermarke ein gutes Stück überschritten und dabei ist sie kaum größer als ich. Der Grund, warum sie sich niemandem rücklings in die haltenden Arme stürzen möchte, liegt also auf der Hand. Schnell wird vom Kennlernprogrammpunkt zum Einstieg in das autogene Training umgeleitet. Nach einigen einleitenden Worten wird auch schon die Entspannungsmusik angeschalten und das Licht herunter gedreht. Binnen weniger Augenblicke liegen alle auf den Matten und Kopfkissen, zugedeckt mit den mitgebrachten Sofadecken.


Mein Körper ist schwer, ganz schwer. Bleischwer. Ich stelle mir vor, dass er im Boden versinkt, so schwer ist er. Meine Lider liegen schwer auf meinen Augen, mein Kopf liegt schwer auf dem Kissen. Ich bin schwer, ganz schwer.

Lenka gesteht uns, dass sie diese Schwere lange Zeit selbst nicht annehmen konnte. Die Verbindung aus den Worten "schwer" und "Körper" widerstrebe ihr. Und wenn ich mir die topgestylte, sporty Mittvierzigerin so ansehe, wundert mich das gar nicht. Schließlich werden wir alle einzeln gefragt, wie wir uns bei der Übung gefühlt haben. Ich äußere mich sehr positiv, was auch der Wahrheit entspricht, nörgle aber ein bisschen an der stereotypen Entspannungsmusik herum. Dann bekommen wir alle noch ein Lob: viele, vor allem junge Leute könnten heute nicht mal mehr still liegen und sich erst recht nicht auf Entspannungstechniken einlassen.

Wir öffnen die Augen wieder.

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