Ich betrete die Straßenbahn, ich möchte nach Hause. In meinen Ohren schallt das Morgenlied von PeterLicht. Es ist eine der kleineren Ausführungen der städtischen Straßenbahn und zudem der Nachmittag eines Werktages. Da ist an einen Sitzplatz nicht zu denken. Vorn, zur Tür beim Fahrer, steige ich ein, mein Blick schweift einmal durch die ganze Bahn und ich will mich schon damit abfinden, mir die Beine in den schmerzenden Rücken zu stehen, als ich zwei freie Plätze nebeneinander entdecke, entgegen der Fahrtrichtung, ganz vorn in der Bahn. Sie gehören zu einer Vierersitzgruppe, in der zwei Doppelsitze einander zugewandt sind. Ich setze mich also, sortiere mich auf dem Sitz zurecht. Es ist meine Gewohnheit – es ist wohl die Gewohnheit eines Jeden – sich dann umzusehen. Wer sitzt mir gegenüber, in die Nähe von wievielen der hier Anwesenden würde ich mich unter normalen Umständen nie begeben, weil es mir mein ästhetisches und elitäres Denken gebieten. Wer kurbelt meine Phantasie an, wer erinnert mich an irgendwen, wer wirkt sympathisch, abstoßend, sexuell interessant, unterbelichtet, belesen, wer hat fettige Haare, wer liest Douglas Adams. Auf meiner visuellen Reise durch mein näheres Umfeld entdecke ich den Grund dafür, warum zwei derart fabelhafte Plätze (nebeneinander!) in einer rappelvollen Bahn bis dahin gesäßlos waren. Mir gegenüber sitzen zwei junge Männer: der links Sitzende wirkt groß und bullig; er hat ein dumpfes Gesicht mit dumpfen, kleinen, ausdruckslosen Augen, seine Züge wirken hohl und leer, sein Mund steht halb offen, so als ob er nicht in der Lage wäre, ihn aus eigenem Willen geschlossen zu halten. Rechts von ihm sitzt, so wirkt es, sein Gehirn. Ein schmächtiger, hagerer Kauz, wache Augen, wacher Blick, man sieht ihm an, dass ihm nichts entgeht. Seine Physiognomie ist die eines raffinierten, hinterhältigen Strippenziehers, der seine vorhandene Intelligenz nicht für die erstrebenswertesten Ziele einsetzt. Schon brauen sich in meinem Kopf die wildesten Geschichten zusammen. Der begabte Kriminelle, Dealer, Dieb, dessen Kiefer- und Jochbeinknochen bisher nur deswegen noch nicht gebrochen wurden, weil er seinen dümmlich-loyalen menschlichen Kampfhund an seiner Seite hat. Meine Augen sind geschlossen, die Bilder rauschen durch mich hindurch. Unvermittelt dringt ein neues Geräusch an meine Ohren, ein hysterisches, unangenehmes Rauschen. Als ich die Augen öffne, sehe ich wie die Beiden über ein mp3-fähiges Handy Musik hören. Unverkennbar der Techno-Remix irgendeines Songs, der genuin Rap ist...war. Jetzt bemerke ich erst die pervers großen Klunker an Handy und in den Ohrlöchern der Herren vor mir. Ich entwickle spontan eine gewaltige Antipathie gegen diese Beiden. Ihr Aufzug ist albern, nicht der zweier Krimineller, deren Taten romanreif sind und für diese Zerstörung meiner hübschen kleinen Phantasie grolle ich ihnen ein Weilchen. Dann hält die Bahn an meiner Haltestelle.
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