Dienstag, Mai 10, 2011

Alles in meinem Leben hatte um acht begonnen: der Kindergarten, die Schule, sogar die Universität, die Arbeitszeit in der Barabasschen Forschungsstätte. Trotzdem hatte ich zehn oder fünfzehn Jahre zuvor im Urlaub oder an den Wochenenden bis in die Mittagsstunden schlafen können. Irgendwann danach aber hatte die Gewohnheit sich zum Gesetz erhoben, das, sobald es gebrochen wurde, die Strafe in Gestalt peinigender Träume unweigerlich nach sich zog. Dicht unter der Oberfläche des Schlafs trieb ich durch meine Alpträume wie eine Ertrinkende durchs Wasser. Und kaum kämpfte sich mein schmerzendes Hirn einmal durch das wirre Geschehen in die rettende Erkenntnis, dass die eben geträumte Gefahr nicht wirklich zu befürchten war, näherte sich schon der nächste Traum wie eine Welle, die mir gleich Mund und Nase verschließen und mich am Atmen hindern würde. Ich ließ es geschehen, bis ich nach einer Zeit, deren Dauer ich nicht selbst bestimmte, zermürbt und erschöpft endgültig auftauchte in den Tag.
Die Last der Träume lag umso schwerer auf mir, je weniger ich mich an sie erinnerte. Selbst wenn es mir gelang, den letzten in das Wachsein zu retten, blieb mir von seinen Vorgängern nichts als eine diffuse Bedrückung, die mich oft den Tag über begleitete wie mein Schatten, so dass ich es vorzog, um halb sieben, spätestens um sieben aufzustehen und den Tag in seiner ganzen Länge zu ertragen.

(Monika Maron Stille Zeile Sechs, 1991)

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