Mittwoch, August 07, 2013

Kazuo Ishiguros "Alles was wir geben mussten"

Von den Plakatflächen in vielen deutschen Städten lächeln uns derzeit Prominente - Sportler wie Kati Wilhelm oder Medienmenschen wie Markus Lanz - an und halten ein Kärtchen in der Hand. Dabei steht der Slogan "Das trägt man heute: den Organspendeausweis". Es handelt sich dabei um eine Kampagne des BMG (Bundesministerium für Gesundheit) und der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitl. Aufklärung) und sie weist auf die verstärkte Bemühung hin, das Thema Organspende - das durch verschiedene Skandale um zweifelhafte Organvergaben in Mitleidenschaft gezogen wurde - wieder in besseres Licht zu rücken und gewissermaßen attraktiver zu machen. Richtig so.

Diese Plakate sind mir vor allem deshalb aufgefallen, weil ich gerade ein sehr eindringliches und qualitativ so hochwertiges Buch lese, in dem Organspende ein zentrales Thema ist: "Alles, was wir geben mussten" (2005) von Kazuo Ishiguro. Der Autor gilt als einer der besten und feinsinnigsten zeitgenössischen Schriftsteller. Das Werk des 58jährigen Briten japanischer Herkunft ist quantitativ überschaubar, qualitativ aber umso beeindruckender; Kritik und Leser sind gleichermaßen hin und weg. Das zeigt sich auch an der Fülle von Ehrungen, die er trotz seines geringen Outputs schon erfahren hat: Booker Prize für "Was vom Tage übrig blieb" (1989) oder auch der Ritterschlag vom englischen Königshaus. 

Aber zum Roman (Achtung - Spoileralarm): "Alles, was wir geben mussten" beginnt oberflächlich betrachtet als harmlose Rückschau einer Frau auf ihre Schuljahre. Diese hat sie in einem Internat in südenglischer Idylle verbracht, sie hatte Freundinnen, es gab Schlafsäle, Sportmannschaften, Eifersüchteleien, alles mögliche. Doch es gibt immer wieder Dinge, die den Leser aufhorchen lassen. Wieso heißt es im Text nicht Lehrer, sondern Aufseher? Was hat es mit diesen 'Spenden' auf sich und weshalb verhalten sich die Erwachsenen gegenüber den Kindern und Jugendlichen so eigenartig?

Die Antwort ist so erschütternd wie faszinierend. Das sind keine normalen Schüler und es hat einen guten Grund, warum sie von der Außenwelt weitestgehend abgeschnitten leben und sich merkwürdig häufig medizinischen Untersuchungen unterziehen müssen. Sie sind Klone, nur zur Welt gekommen, um eines Tages Organspender zu werden; regelrechte Ersatzteillager für Menschen, die sie in Auftrag gegeben haben. Diese Kinder werden vorraussichtlich niemals auch nur 30 Jahre alt werden, denn mit ca. 20 Jahren beginnen sie zu spenden, und mehr als drei, maximal vier Spenden überlebt keiner von ihnen.

Das klingt alles, wenn man es so zusammengefasst liest, unglaublich abgedreht und Science Fiction-mäßig. Im Roman allerdings wird so leise, so ruhig, so realistisch erzählt, dass dieser Eindruck dort gar nicht entsteht. Diese Kinder unterscheiden sich in ihrem Verhalten nicht wirklich von realen Kindern; Musik, Freunde bedeuten ihnen genauso viel wie uns.
Auf ebenso subtile Weise findet eine moralische Behandlung des Themas statt. Manche Lehrer bzw. Aufseher kommen mit der künstlichen Herkunft der Kinder und ihrem einzigen Lebenszweck nicht zurecht, sie ertragen es kaum, wenn die Kinder von einer Zukunft als Filmstar träumen oder Vater-Mutter-Kind spielen, andere wiederum ekeln sich vor ihnen. Besonderen Wert legt die Gründerin dieses fragwürdigen Projekts auf den Kunstunterricht und die Förderung der Kreativität - aus den Werken der Kinder und Jugendlichen hofft sie zu ersehen, ob diese Geschöpfe eine Seele haben.

Das ist wirklich ein Buch, das man, wie man so schön sagt, anderen ans Herz legen möchte. Etwas Vergleichbares wird kaum einer von euch schon mal gelesen haben. Empfehlenswert ist auch die Verfilmung aus dem Jahr 2010, bei der Kazuo Ishiguro übrigens ausführender Produzent war. Der Film schafft es auf beeindruckende Weise, den leisen Erzählton und seine wuchtige Wirkung umzusetzen und ist ideal besetzt (Carey Mulligan, Keira Knightley, Adrew Garfield).

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