Donnerstag, August 15, 2013

Leipzsch isn Dorf. Oder so.

"Die Stadt ist so anonym", heißt es immer wieder, vor allem von Leuten, die sich dafür rechtfertigen, irgendwo in der Pampa zu wohnen, wo es ruhig und idyllisch, wo aber auch das Feuerwehrfest jeden August das Jahreshighlight ist. 

"Leipzig is'n Dorf", höre ich pro Woche mindestens zwei Malvon fremden oder mir bekannten Menschen, und hin und wieder äußere ich diesen Satz selbst mal phrasenhaft, wenn ich jemandem mehrmals in kurzer Zeit begegne, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür gar nicht sonderlich hoch ist.

Beide Floskeln stimmen auf ihre Weise. Als Referenzobjekt für ein Dorf habe ich eigentlich nur das Heimatdorf meines Freundes, aber ich denke, dass Dörfer grundlegend so funktionieren. Fast alle Leute, die grob dem gleichen Jahrgang angehören, kennen sich, einfach weil sie alle auf der gleichen Grund- und Mittelschule waren. Meine Schweigereltern kennen so gut wie jeden mit Vornamen, Informationen verbreiten sich lauffeuerartig, egal ob es um einen Todesfall, die diesjährige Band auf dem Schützenfest oder den neuesten Tratsch um eine Scheidung geht.

In Leipzig erfahre ich die Vornamen fast aller meiner Nachbarn nie, außer ich nehme mal ein Paket von ihnen an. Bei meiner ersten Leipziger Wohnung war die Anonymität der Hausgemeinschaft - die es in diesem Sinne ja nicht gab - enorm, gesprochen habe ich fast mit niemandem, von einem sehr netten älteren Ehepaar abgesehen. Nicht mal mit den jüngeren Leuten und den Mädels aus der Studenten-WG im Erdgeschoss hatte ich Kontakt und eigentlich habe ich auch sonst keine Gespräche mitbekommen. 
Bei der zweiten Wohnung war das anders. Schnell hatte ich mich mit Sophie, die in der Einraumwohnung unter mir wohnte, angefreundet; auch mit einem älteren Ehepaar aus dem ersten Stock hatte ich regelmäßigen Kontakt, schon weil der Mann so eine Art Hauswart war. Seine Frau hat mich häufig über den Stand ihrer Kniebeschwerden oder die Gesundheit der Hunde ihres Sohnes aufgeklärt.

Jetzt, im dritten Leipziger Altbau, den ich bewohne, ist vieles ganz ungewohnt. Mit unserem direkten Nachbarn, der seinen vollen Namen auf dem Fußabtreter und seine Wohnungstür den halben Tag sperrangelweit offen stehen hat, um Durchzug zu generieren, bin ich per du, lockere Treppenhausplaudereien ergeben sich regelmäßig. Auch mit der jungen Frau, die in der Wohnung unter unserer wohnt, ist man per du. Sie war sogar auf einer Party bei uns (seitdem ist der Kontakt beinahe lahmgelegt, keine Ahnung, was da vorgefallen ist). Auch in diesem Haus wohnt ein Hauswart, was sowieso eine gewisse Grundkommunikation mit sich bringt (und sowohl Vor- als auch Nachteile hat). Im Erdgeschoss lebt ein Paar um die 55, das eine große Vielzahl eigener, adoptierter, gefühlter Kinder zu haben scheint, denn an fast jedem sonnigen Nachmittag der Woche sitzen andere junge Menschen mit ihren kleinen Kindern auf deren Balkon. Letztes Wochenende war im Hinterhof mal wieder eine große Kaffeetafel aufgebaut, um das ältere Paar mit den Kindern und Kindeskindern sitzt und russischen Zupfkuchen mampft.

Gerade in den südlichen und westlichen Teilen dieser Stadt gibt es viele Häuser, die fast nur von Studenten-WGs bewohnt werden. Schmeißen die einen eine Party, wird die Wohnung schon rappelvoll, wenn auch nur die Hälfte der eingeladenen Hausbewohner erscheinen (und das tun sie), auch sonst ist die interne Besuchsrate oft hoch. Gerade in einer Stadt wie Leipzig, in der es vor Studenten und jungen Familien nur so wimmelt, ist es oft alles andere als anonym. 

Das ist vielleicht die Lösung des Rätsels und auch das Schöne daran - die vielen kleinen Dorfgemeinschaften innerhalb der Großstadt.

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