Donnerstag, Juni 07, 2012

Fußball-EM 2012 - aber eigentlich eher: alte Städte mit 'L'

Morgen Abend findet mit der Kracherpartie Polen vs. Griechenland das Eröffnungsspiel der Fußballeuropameisterschaft statt - wesentlich attraktiver finde ich persönlich ja die Begegnung im Anschluss, bei welcher sich Tschechien und Russland gegenüberstehen. Da wäre ich dann gern in meinem böhmischen Lieblingsrestaurant in meiner Heimatstadt - da gibts Freibier eine halbe Stunde lang nach jedem tschechischen Tor. Ob die favorisierten Russen sonderlich viel Freibier für meine Geburtsstädter zulassen, wage ich aber mal zu bezweifeln.

Am Samstagabend steigt dann das erste Spiel mit deutscher Beteiligung, um 20:45 Uhr muss Jogis Truppe in Lemberg gegen Cristiano und die anderen Portugiesen ran. Ich will jetzt aber gar nicht über Haargel und uneheliche Kinder sprechen, sondern über Lemberg, oder gerne auch Lwiw, für die Aussprachemächtigen. Um Zuge der schon seit Wochen andauernden Berichterstattung über die EM in Polen und der Ukraine hat diese Stadt meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In der aktuellen 11Freunde gibt es einen wirklich interessanten Reisebericht eines Redakteurs, der der Reihe nach die Städte, in welche die deutsche Nationalmannschaft reist, wenn sie bis ins Finale kommt, abgeklappert hat. Die Ukraine kommt dabei weniger gut weg, vor allem aufgrund rechtsradikaler Tendenzen (besonders heikel im russisch geprägten Osten um den Austragungsort Charkiw) und weil der Redakteur keinen einzigen Mitarbeiter bei der ukrainischen Bahn oder den städtischen Verkehrsbetrieben gefunden hat, der des Englischen mächtig war, von englischen Ausschilderungen mal ganz zu schweigen. Einzig in Lemberg kann er der Ukraine etwas Schönes abgewinnen - sicherlich eine etwas einseitige Darstellung, die seinen wirklich unbequemen, stundenlangen Bus- und Bummelzugreisen durch das Land mit andauernden Kontrollen geschuldet ist.

Lemberg liegt ganz im Westen der Ukraine. Neben seinem ukrainischen Namen Lwiw besitzt es diesen alten, deutschen Namen, da es von 1772-1918 zur Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn gehörte und damals die östlichste Bastion dieses Kaiserreiches und einen wichtigen Faktor zum Schutz gegen das russische Reich darstellte. Zwischen den Weltkriegen befand sich die Stadt auf polnischem Gebiet, womit sie einen gewissen Sonderstatus gerade innerhalb der polnisch-ukrainischen Beziehungen und auch hinsichtlich der Europameisterschaft, die bekanntlich beide Nationen partnerschaftlich austragen, hat. Im Übrigen war Lwiw auch von 1340 bis 1772 eine polnische Stadt. An Österreich-Ungarn fiel sie im Zuge der ersten (von so vielen) Teilungen Polens, als Preußen, Österreich-Ungarn und das russische Zarenreich das Land untereinander aufteilten.
Es folgten das Ostblockstaatendasein ab 1945 unter sowjetischer Fuchtel; seit 1991 ist die Ukraine ein unabhängiger Staat.

Das Stadtbild Lwiws macht aber einen gar nicht "sowjetischen" Eindruck und das hat vor allem mit den ca. 150 Jahren der Habsburgerherrschaft zu tun. Die Weltkriege haben die Bauten aus Renaissance und Barock, aus Klassizismus und Jugendstil fast gänzlich unbeschadet belassen, sodass man in Europa in kaum einer anderen Stadt ein derartig vollständiges Architekturpanorama finden kann. Besonders hervorzuheben sind die Oper aus dem 19. Jahrhundert und die St.-Georgs-Kathedrale aus dem 18. Jahrhundert. Von immenser historischer und auch kirchenbaulicher Bedeutung ist die sogenannte Armenische Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert, die im alten armenischen Viertel der zu dieser Zeit polnischen Stadt errichtet wurde. Mir persönlich gefällt - so von der bloßen Onlinerecherche her - die Boim-Kapelle gut. Das ist eine Kapelle aus der Renaissance, von der ungarisch-stämmigen Familie Boim gestiftet (Herr Boim war Kaufmann und Stadtrat in Lemberg). Außerdem scheint das Umland, in dem sich bereits die im Süden anschließenden Karpaten andeuten, bekannt für Holzkirchen zu sein.

Und für alle Literaturinteressierten: ca. 90km entfernt von Lemberg liegt Brody, der Geburtstort von Joseph Roth, dem wir so wunderbare Texte wie Hiob, Hotel Savoy, Radetzkymarsch oder auch Die Legende vom heiligen Trinker zu verdanken haben. Roth studierte ein Jahr lang an der Lemberger Universität (die älteste der Ukraine), bevor er sich in Wien immatrikulierte.
Außerdem wurden Stanislaw Lem Und Leopold Sacher-Masoch (Venus im Pelz) in Lemberg geboren.

Einen Faible für die Länder zwischen Deutschland und Russland hatte ich schon immer, vor allem aufgrund der Ethnien- und Kulturenvielfalt sowie des Legendenreichtums, den ich mit dieser Region verbinde. Ob meine dunkle-Mythen-geschwängerte Vorstellung eine Art mitteleuropäischer Verklärung und Mystifizierung darstellt, erfahre ich wohl erst, wenn ich eines Tages in östlichere Regionen als das Riesengebirge reisen sollte. Denn wenn wir ehrlich sind - Teile der Ukraine sind nicht weiter weg als manche Ecken Frankreichs, aber unser spontanes Wissen darüber ist kaum vorhanden, und wenn, dann nur in Ahnungen und im wahrsten Sinne des Wortes dunklen Vorstellungen.
Vielleicht hat auch Prag mit meiner Vorstellung von Osteuropa viel zu tun. Irgendetwas in mir denkt sich: wenn Prag schon so sagenhafte Legenden wie die um den Golem zu bieten hat, dann muss es noch weiter im Osten noch Magischeres geben. Und angesichts des Mythenschatzes des Ostjudentums halte ich das auch gar nicht mal für eine utopische Idee.

Hier folgt noch ein schönes, etwa 15minütiges Video über Lembergs Geschichte und Kultur.

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Dinge rund um Fußball, die keinem groß was nützen:

Wusstet ihr schon, dass ... Joachim Löw, Michael Rummenigge (der kleine Bruder von Kalle), Joan Capdevila, Gregory van der Wiel und ich am gleichen Tag Geburtstag haben?

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