Montag, November 07, 2011

Angst

Dass das Wort 'Angst' vielleicht die beste Beschreibung der Welt, in der wir leben, ist, haben schon viele festgestellt. Michael Moore zum Beispiel oder die Simpsons wissen, dass vieles - gerade in den Vereinigten Staaten - auf Angstmache aufbaut. Angst vorm Schwarzen Mann, Angst vor Mord und Totschlag. Da ich heute mal ein paar Minuten der Qualitäts-TV-Sendung Brisant gesehen habe, weiß ich, dass vor allem letztere Angst allgegenwärtig ist, medial explizit an unsere Großmütter ausgesendet wird und etwa so aussieht: immer mehr aggressive Wildschweine greifen in unseren schönen Wäldern spazierende Rentner an, Menschen erstechen aufgrund eines Streits wegen Lärmbelästigung ihr Nachbarn und in Leipzig liegen überall Leichenteile herum. Kaum eine Meldung, in der nicht ein "Gewaltverbrechen unfassbarer Grausamkeit" im Fokus steht. 

Immer wichtiger ist heute aber auch die Angst vor Epedemien. Nach SARS und EHEC und BSE und den ganzen [insert animal]-Grippen muss jeder Keim im, tja, Keim erstickt werden. Das nimmt teilweise absurde Ausmaße an. Viele Kinder sind heute regelrechte "Sagrotankinder" und werden nach dem ersten Tag im Kindergarten sofort krank, weil sie bisher zu Hause bakterienfrei aufgewachsen sind. Den Oberknaller hat Sagrotan in diesem Jahr mit dem automatischen Seifenspender gebracht - er funktioniert via Handsensor, man muss die potenzielle Bazillenfläche ordinärer Seifenspender also nicht mehr berühren, um an die reinigende Substanz zu gelangen. Ein Wunder, dass das nach dem EHEC-Sommer ein Verkaufsschlager ist ... Dazu passt auch der Film Contagion (von Steven Soderbergh, mit Kate Winslet, Matt Damon, Jude Law, Gwyneth Paltrow und - natürlich - Laurence Fishburne), der seit 20. Oktober in den deutschen Kinos läuft. Es geht in diesem Streifen um ein tödliches Killervirus ('Killer' sollte vielleicht als Präfix in die deutsche Sprache aufgenommen werden ...). Bereits im Trailer spricht der Charakter, den Kate Winslet verkörpert, Erschreckendes aus: "Der Mensch berührt sein Gesicht im Durchschnitt pro Minute drei- bis fünfmal. In der Zwischenzeit fassen wir Türklinken an, Wasserhähne und andere Menschen." Na, da haben wir wohl den Salat - von nun an Einzelhaft für alle, selbstverständlich mit No Touch Seifenspendersystem.
Sagrotankinder, die bei jedem Gegenstand, den sie aufheben wollen, ein kreischendes "Fass das nicht an, da hat ne Katze drauf gepinkelt!" hören, sind aber ein gar nicht mal so junges Phänomen. Ich erinnere mich an die Mutter einer sehr guten Freundin aus Schulzeiten. Besagte Mutter war von Beruf Laborantin in einem Krankenhaus. Da ist eine pingelige Einhaltung der Hygienevorschriften am Arbeitsplatz natürlich wichtig, gerade wenn man an die vielen Frühchen denkt, die dieses Jahr in deutschen Krankenhäusern an unsauberen Kanülen, etc. verstorben sind. Doch meine Freundin bekam diese Ader ihrer Mutter auch privat zu spüren. Mehrmals wöchentlich wurden Laken und Bettbezüge ausgetauscht, auf Klassenfahrten befand sich fast jedes Kleidungsstück aus der Reisetasche in einer separaten Plastiktüte. Von meiner kleinen Cousine, die nicht auf Spielplätzen, geschweigedenn überhaupt "draußen" spielen darf, ganz zu schweigen.

Aber ich schweife ab. Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist ein Buch, das heute beim Heyne Verlag erscheint. Es heißt Angst und wurde vom britischen Bestsellerautor Robert Harris (Enigma, Der Ghostwriter) verfasst. In diesem Thriller wird eine ganz aktuelle Art der Angst thematisiert; es geht um die unmenschliche Maschinerie der Geldwirtschaft und der Börsenmärkte. Der eigentliche Protagonist des Romans ist eine Börsensoftware, "eine revolutionäre Form des algorithmischen Aktienhandels. Künstliche Intelligenz und das Sammeln von Angstparametern im globalen Internet werden zu einer hochgeheimen Software verknüpft, die mit geradezu unheimlicher Präzision die Bewegungen der Finanzmärkte voraussagen kann." (Quelle: Verlagshomepage)
Harris lässt die Geschichte, mit deren Niederschrift er im Sommer 2010 begann, zu einem großen Teil an dem Tag im Mai 2010 Tag spielen, an dem die New Yorker Börse binnen acht Minuten um mehr als 1000 Punkte in den Keller rauschte. In einem Interview mit dem Autor, das ich heute bei Kulturzeit auf 3Sat gesehen habe, sagte der Autor, dass er es beim Schreiben selbst mit der Angst zu tun bekommen habe. Denn auf erschreckend exakte Weise sind Dinge, die er letztes Jahr in das Manuskript seines Romans Angst niederschrieb, im Jahr 2011 wahr geworden. Also fast so eine Art Prophezeihung. Dazu gehört vor allem die Bewegung Occupy Wallstreet - am Ende von Harris' Thriller steht ebenfalls eine revolutionäre Bewegung. 
Kulturzeit lobte den Roman als sehr klugen, reflektierenden und teils auch wachrüttelnden Beitrag zur momentanen Situation, quasi zum neuen Zustand der permanenten Angst, in dem der ganze Planet sich zu befinden scheint.

6 Kommentare:

anja hat gesagt…

Zum Mittelteil fiel mir spontan ein: Ein Wunder, dass die Menschheit tatsächlich so lange ohne Sagrotan im Alltag überlebt hat ... aber über deren Werbung rege ich mich auch immer auf ...

Ach und: Oha, neues Layout! :) Roooooot! Wie kommts?

Anne hat gesagt…

Zum einen war das alte Layout schon fast drei Jahre alt, da bekommt man eben mal Lust auf ein Neues. Und dass Rot eher meine Farbe ist als Grün (wobei mir grün ja sehr sympathisch ist, meine kleine Grünfetischistin *g*), sieht das Resultat eben so aus. Der Anlass der Änderung war aber vor allem Langeweile - dafür gefällts mir aber nach wie vor sehr gut :D. Ist das Rot zu knallig geraten?

Anonym hat gesagt…

ich hab vor ein paar monaten einen artikel über plastikhandschuge gelesen. also, dass wir neuerdings an allen theken mit plastikhandschuhen bedient weden, was es früher nicht gab. der handschuh ist z.b. für den wurstverkäufer oder bäcker pflicht. ich finds aber eher ekelhaft ein brötchen essen zu müssen, dass mit so nem schwitzigen, widerlichen handschu berührt wurde. zumal der ja auch nicht bei jeden kunden gewechselt wird. absoluter humbug. und die arbeiter, die die scheißdinger tragen müssen klagen über hautirritationen an den händen, weil sie ständig in diesen schwitzigen plastikdingern stecken.
ich finds pervers. genau wie der seifenspender. den ich mich nicht mehr traue anzufassen, obwohl ich mich ja danach die hände wasche!!! sick sad world.

Sandra hat gesagt…

"Sagrotankinder, die bei jedem Gegenstand, den sie aufheben wollen, ein kreischendes "Fass das nicht an, da hat ne Katze drauf gepinkelt!" hören"
Mal ganz davon abgesehen, dass sowas scheiße fürs Immunsystem ist, hilft es auch bei der Entwicklung von Zwangsstörungen .
Das rot find ich schön, keineswegs zu knallig. Kann auch alles gut lesen :)

Anne hat gesagt…

danke für die fachmeinung :)

Cosmic Dust hat gesagt…

"Sagrotankinder" - nice! :-D

Zum Thema No-Touch-Seifensprender: Nunja, ich sehe es eher als ein bis auf die Spitze getriebenes Marketingkonzept. Und zwar so sehr auf die Spitze getrieben, dass es bar jeden gesunden menschlichen Verstands ist (so ähnlich wie die Profs an meinem Institut, die den gesunden Menschenverstand irgendwo zwischen Promotion und Habilitation verloren haben) "Sagroten - keimfreier als wir ist nichtmal der Kosmos!" Das ist ein Produkt für Hygieneneurotiker (die nicht einmal Seifenspender anfassen möchten) und das weiß es genau.

(Zum Thema Angst schreib ich was, wenn mir was Schlaues - und kohärentes - dazu einfällt ;-))

P.S. Dein neues Design ist sehr hübsch, der Blog ist angenehm lesbar.